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Älteren Menschen fällt es leichter, Einsamkeit zu vermeiden, als sich aus bestehender Einsamkeit zu befreien

In der politischen Debatte wird die Bekämpfung von Einsamkeit zunehmend als ein Problem mit weitreichenden Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt und die öffentliche Gesundheitsvorsorge aufgefasst [1]. In diesem Zusammenhang wird häufig angenommen, dass ältere Menschen besonders häufig von Einsamkeit betroffen sind. Diese Vermutung wird oft damit begründet, dass Ältere weniger soziale Kontakte pflegen und weniger oft etwas mit Anderen unternehmen [2, 3]. Allerdings zeigen umfangreiche Forschungen, dass Einsamkeitserfahrungen keineswegs mit dem Alter zunehmen [4, 5]. Basierend auf einem Modell, welches konkrete Vorhersagen erlaubt, wie Menschen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Zeit und Energie umgehen (das Differential Investment of Resources Modell, kurz DIRe Modell) [6], entwickelten Forscher am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) ein Untersuchungsdesign, mit dem sie einen Teil dieses Paradoxes erklären können.

Huxhold und Henning nahmen an, dass ältere Menschen in der Regel ganz gut darin seien, Einsamkeit zu vermeiden. Älteren Erwachsenen ist es oft wichtiger, enge zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen als zahlreiche soziale Kontakte aufrecht zu erhalten, bei jüngeren Menschen ist es häufig eher umgekehrt [6]. Dieser Fokus auf enge soziale Beziehungen erlaubt es den Älteren wahrscheinlich auch, sich schneller von Kontakten zu trennen, die ihnen nicht gut tun [7]. Darüber hinaus verfügen viele ältere Erwachsene aufgrund ihrer Lebenserfahrung über sehr gute soziale Fähigkeiten, die ihnen helfen, die Qualität ihrer bestehenden Beziehungen zu verbessern [8]. Zusammen können diese Anpassungen es vielen älteren Menschen ermöglichen, mit altersbedingten Veränderungen in ihren sozialen Netzwerken umzugehen und ein erhöhtes Einsamkeitserleben verhindern.

Allerdings sagt das DIRe Modell auch vorher, dass ältere Menschen große Schwierigkeiten haben, sich aus Einsamkeit zu befreien, wenn sie diese erst einmal erleben würden. Denn um sich nicht mehr einsam zu fühlen, ist es nötig entweder bestehende Kontakte zu vertiefen oder neue Bindungen aufzubauen. Beides kostet Zeit und Energie [9]. Dabei schränken die mit dem Alter zunehmenden gesundheitlichen Probleme und chronischen Krankheiten die Fähigkeit zu sozialem Engagement ein [3]. Die Bewältigung dieser gesundheitlichen Probleme reduziert die Zeit und Energie, die für soziale Kontakte zur Verfügung stehen, und wird so zu einer Belastung bei der Überwindung der Einsamkeit. Auch der Fokus auf enge Beziehungen wird hier zum Problem, denn die Bereitschaft neue (zumindest zunächst nicht enge) Kontakte aufzubauen, ist gering [10]. Zusätzlich können die individuellen Sichtweisen auf das Älterwerden den Aufbau neuer sozialer Beziehungen behindern. Eine positive Sichtweise wird mit dem Knüpfen neuer Freundschaften und der Teilnahme an sozialen Aktivitäten in Verbindung gebracht [10, 11], während eine negative Sichtweise als Hindernis wirken und die Motivation, neue Bindungen einzugehen, verringern kann. Da negative Ansichten mit dem Alter tendenziell zunehmen [12], werden sie mit der Zeit zu größeren Hürden für die Überwindung von Einsamkeit. Zuletzt muss noch festgestellt werden, dass mit dem Alter die Gelegenheiten für den Aufbau sozialer Bindungen abnehmen, da ältere Erwachsene in der Regel in weniger soziale Kontexte wie Arbeit, Schule oder Ehrenamt eingebettet sind, die den Kontakt zu anderen Menschen ermöglichen [13]. Dabei kann insbesondere ein hohes Maß an sozialen Aktivitäten neue Kontakte eröffnen, aber diese Aktivitäten nehmen mit dem Alter oft ab, was weitere Hindernisse für die Überwindung von Einsamkeit schafft [3].

Zusammenfassend sagten Huxhold und Henning vorher, dass ältere Menschen aufgrund verschiedener Anpassungsleistungen in der Regel gut aufgestellt seien, um Einsamkeit zu vermeiden. Gleichzeitig vermuteten sie, dass die begrenzte Fähigkeit, in soziale Beziehungen zu investieren, aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, negativer individueller Sichtweisen auf das Älterwerden und abnehmender Möglichkeiten zur sozialen Interaktion für ältere Erwachsene eine Herausforderung bei der der Überwindung von Einsamkeit darstellt. Deshalb unterschieden sie in ihrer Studie zwischen dem Risiko, einsam zu werden, und dem Risiko, einsam zu bleiben. Das Risiko, einsam zu werden, würde ihrer Meinung nach nicht mit dem Alter steigen. Das Risiko, einsam zu bleiben, würde jedoch mit steigendem Alter anwachsen.

Methode

Die Studie nutzte die Daten aus sechs Erhebungswellen (1996–2017) des Deutschen Alterssurveys (DEAS), der am DZA seit 2002 durchgeführt wird (https://www.DZA.de/forschung/DEAS). Der DEAS ist eine repräsentative Studie der Menschen zwischen 40 und 85 Jahren, die in Privathaushalten leben. Er wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
Die längsschnittliche Analyse integrierte 25.963 Datenpunkte von 15.408 Studienteilnehmer*innen. Das Durchschnittsalter betrug 61 Jahre. Mit Hilfe von logistischen Regressionen wurde der Einfluss von vorangegangenen Episoden von Einsamkeit auf das Risiko, innerhalb von drei Jahren einsam zu sein, untersucht. Zudem wurde analysiert, ob der langfristige Einfluss früherer Einsamkeitserfahrungen im Verlauf der zweiten Lebenshälfte (von 40 bis 90 Jahren) zunimmt.

Ergebnisse

Abbildung 1 zeigt den Altersverlauf des Risikos, in drei Jahren einsam zu sein für Personen, die zuvor nicht einsam waren und das Risiko, in drei Jahren einsam zu sein, für Menschen, die vorher einsam waren. Wie man sieht, sind die Altersunterschiede in Bezug auf das Risiko, einsam zu werden, minimal. Basierend auf den Schätzungen, die aus dem statistischen Modell abgeleitet werden können, haben 40-jährige und 90-jährige Erwachsene im Grunde das gleiche Risiko, einsam zu werden – nämlich 6,5 Prozent. Im Gegensatz dazu waren die Altersunterschiede im Hinblick auf das Risiko, einsam zu bleiben, sehr ausgeprägt. Selbst im Alter von 40 Jahren hatten Personen, die einsam waren, ein Risiko von etwa 50 Prozent, in drei Jahren immer noch einsam zu sein. Dieses Risiko verringerte sich leicht im mittleren Erwachsenenalter. Menschen um die 60 Jahre wiesen die besten Aussichten auf, aus der Einsamkeit zu entkommen. Ab dem Alter von etwa 75 Jahren stieg das Risiko, einsam zu bleiben jedoch drastisch an. Personen, die im Alter von 90 Jahren einsam waren, hatten ein Risiko von etwa 70 Prozent, auch in drei Jahren noch einsam zu sein.

 

Abbildung 2 verdeutlicht, welche Bedeutung altersbedingte Unterschiede in der Gesundheit, in der Sicht auf das eigene Älterwerden und im Ausmaß sozialer Aktivitäten auf das Risiko, einsam zu bleiben, haben. Die rote Linie zeigt den Altersverlauf des Risikos, im mittleren und späten Erwachsenenalter einsam zu bleiben, ohne Berücksichtigung von Altersunterschieden bei den erklärenden Variablen. Die dunkelgraue Linie veranschaulicht den Verlauf, wenn Altersunterschiede in der Gesundheit berücksichtigt wurden. Der Effekt war relativ gering. Hätten jedoch alle Personen in der Stichprobe den gleichen Gesundheitszustand, wäre das Risiko, einsam zu bleiben, für Personen im Alter von 55 Jahren oder älter etwas geringer gewesen. Wenn die individuellen Sichtweisen auf das Älterwerden zusätzlich berücksichtigt wurden (siehe hellgraue Linie in Abbildung 2), war das Risiko, einsam zu bleiben, im mittleren und späten Erwachsenenalter deutlich geringer. Darüber hinaus wurde die Auswirkung der Sichtweisen auf das Altern auf das Einsamkeitsrisiko mit zunehmendem Alter immer deutlicher. Die grüne Linie verdeutlicht den zusätzlichen Einfluss von sozialen Aktivitäten. Zusammenfassend lässt sich sagen: Hätten 40-jährige Erwachsene und 90-jährige Personen eine vergleichbare Gesundheit, die gleiche positive Sicht aufs Älterwerden und das gleiche Niveau an sozialen Aktivitäten, würden sie auch das gleiche Risiko aufweisen, einsam zu bleiben (etwa 41 Prozent).

 

Diskussion

Die Studie des DZA zeigt, dass sich das Risiko, einsam zu werden, im mittleren und späten Erwachsenenalter kaum verändert. Einsamkeit ist also kein unausweichliches Schicksal im späten Erwachsenenalter. Es ist wichtig, diese Tatsache so weit wie möglich zu verbreiten, da viele Laien und Politiker immer noch denken, dass Einsamkeit ein besonderes Problem des Alters ist. Da dieser Glaube in der öffentlichen Debatte häufig und prominent vertreten wird, könnte er negative Folgen für die älterwerdenden Menschen nach sich ziehen. Die Stereotype Embodiment Theory [14] sagt beispielsweise vorher, dass Menschen die Überzeugung, dass Altern untrennbar mit Einsamkeit verbunden ist, in ihre Sichtweisen über ihren eigenen Alterungsprozess einbauen. Wie unsere Analyse zeigt, könnte dieses negative Altersbild dazu führen, dass ältere Erwachsener erst gar nicht mehr in neue soziale Beziehungen investieren.

Darüber hinaus legen unsere Ergebnisse nahe, dass, obwohl schwere Einsamkeitserfahrungen auch im mittleren Alter auftreten, Interventionen gegen Einsamkeit dennoch vorrangig auf ältere Altersgruppen ausgerichtet sein sollten. Nach dem 75. Lebensjahr ist es immer unwahrscheinlicher, dass ältere Erwachsene einen Zustand der Einsamkeit aus eigenem Antrieb überwinden. Leider zeigen auch systematische Übersichtsartikel, dass die meisten derzeit verfügbaren Interventionen zur Bekämpfung der Einsamkeit nicht wirksam sind [15, 16]. In einer Meta-Analyse schlussfolgerten Masi und Kolleg*innen [17], dass nur solche Interventionen erfolgreich sind, die negative soziale Überzeugungen ansprechen. Unsere Ergebnisse stimmen mit dieser Aussage überein und deuten darauf hin, dass Menschen, die ihr soziales Altern positiver einschätzen, leichter aus der Einsamkeit herauskommen können. Daher könnte die Beeinflussung negativer Ansichten über das Altern ein Weg sein, um wirksame Interventionen gegen Einsamkeit bei älteren Erwachsenen zu entwickeln.

Insgesamt liefert diese Studie einen differenzierten Blick auf die Altersverläufe der Risiken, einsam zu werden und zu bleiben, im mittleren und späten Erwachsenenalter. Sie zeigt zudem mögliche Gründe auf, warum ältere Erwachsene besondere Probleme mit der Überwindung der Einsamkeit haben könnten. Die Daten wurden jedoch in einem spezifischen kulturellen Kontext erhoben und die Gründe für Einsamkeit können sich zwischen verschiedenen Kulturen unterscheiden [18]. Daher sind Replikationen dieser Studie in anderen Ländern dringend erforderlich.

 

Dieser Text steht als PDF zum Download  bereit. Er fasst die Ergebnisse eines englischsprachigen Artikels zusammen, der in Journals of Gerontology: Psychological Science erschienen ist: Huxhold, O., & Henning, G. (2023). The Risks of Experiencing Severe Loneliness Across Middle and Late Adulthood. The Journals of Gerontology: Series B, 2023 DOI: 10.1093/geronb/gbad099

 

1.         Huxhold, O., Romeu Gordo, L., & Tesch-Römer, C. (2023). Einsamkeit differenziert betrachten - die Lebenssituationen älterer Menschen in den Blick nehmen: Stellungnahme des Deutschen Zentrums für Altersfragen zum Diskussionspapier "Auf dem Weg zu einer Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit" [DZA-Stellungnahme]. Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen. Online verfügbar unter: www.dza.de/detailansicht/in-der-pandemie-zeigt-sich-bei-frauen-eine-unguenstigere-entwicklung-der-partnerschaftsqualitaet-als-bei-maennern (Zuletzt abgerufen am 17.08.2023)

2.         Böger, A., Huxhold, O., Wolff, J.K. (2027). Wahlverwandtschaften: Sind Freundschaften für die soziale Integration wichtiger geworden? In K. Mahne, J. K. Wolff, J. Simonson, C. Tesch-Römer (Hrsg.). Altern im Wandel: Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey (DEAS), S. 257-271). Wiesbaden: Springer VS. doi.org/10.1007/978-3-658-12502-8_17

3.         Huxhold, O., Fiori, K.L., & Windsor, T.D. (2013). The dynamic interplay of social network characteristics, subjective well-being and health: The costs and benefits of socio-emotional selectivity. Psychology and Aging, 28(1), 3-16. doi.org/10.1037/a0030170

4.         Böger, A., Wetzel, M, & Huxhold, O. (2017). Allein unter vielen oder zusammen ausgeschlossen: Einsamkeit und wahrgenommene soziale Exklusion in der zweiten Lebenshälfte. In K. Mahne, J. K. Wolff, J. Simonson, C. Tesch-Römer (Hrsg.). Altern im Wandel: Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey (DEAS), S. 273-285). Wiesbaden: Springer VS. doi.org/10.1007/978-3-658-12502-8_18

5.         Mund, M., et al. (2020). The Stability and Change of Loneliness Across the Life Span: A Meta-Analysis of Longitudinal Studies. Personality and Social Psychology Review, 24(1), 24-52. doi.org/10.1037/a0030170

6.         Lang, F.R., & Carstensen, L. L. (2022). Time counts: Future time perspective, goals, and social relationships. Psychology and Aging, 17(1), 125. doi.apa.org/doi/10.1037/0882-7974.17.1.125

7.         Böger, A., & Huxhold, O. (2018). Age-related changes in emotional qualities of the social network from middle adulthood into old age: How do they relate to the experience of loneliness? Psychology and Aging, 33(3), 482-496. doi.org/10.1037/pag0000585

8.         Birditt, K.S., et al. (2020). Daily interpersonal tensions and well-being among older adults: The role of emotion regulation strategies. Psychology and Aging, 35(4), 578-590. doi.org/10.1037/pag0000416

9.         Huxhold, O., Fiori, K.L., & Windsor, T.D. (2022). Rethinking Social Relationships in Adulthood: The Differential Investment of Resources Model. Personality and Social Psychology Review, 26(1), 57-82. doi.org/10.1177/10888683211067035

10.       Huxhold, O. (2019). Gauging effects of historical differences on aging trajectories: The increasing importance of friendships. Psychology and Aging, 34(8), 1170-1184. doi.org/10.1037/pag0000390

11.       Menkin, J.A., et al. (2017). Positive expectations regarding aging linked to more new friends in later life. Journals of Gerontology Series B-Psychological Sciences and Social Sciences, 72(5), 771-781. doi.org/10.1093/geronb/gbv118

12.       Diehl, M., et al. (2021). Age-related change in self-perceptions of aging: Longitudinal trajectories and predictors of change. Psychology and Aging. doi.org/10.1037/pag0000585

13.       Fuller, H.R., Ajrouch, K.J., & Antonucci, T.C. (2020). The Convoy Model and Later-Life Family Relationships. Journal of Family Theory & Review, 12(2), 126-146. doi.org/10.1111/jftr.12376

14.       Levy, B. (2009). Stereotype embodiment: A psychosocial approach to aging. Current Directions in Psychological Science, 18(6), 332-336. doi.org/10.1111/j.1467-8721.2009.01662.x

15.       Masi, C.M., et al. (2011). A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness. Personality and Social Psychology Review, 15(3), 219-266. doi.org/10.1177/1088868310377394

16.       Victor, C., et al. (2018). An overview of reviews: the effectiveness of interventions to address loneliness at all stages of the life-course. whatworkswellbeing.org/wp/wp-content/uploads/woocommerce_uploads/2018/10/Full-report-Tackling-loneliness-Oct-2018.pdf

17.       Akhter-Khan, S.C., et al.(2023). Understanding and Addressing Older Adults’ Loneliness: The Social Relationship Expectations Framework. Perspectives on Psychological Science, 18(4), 762-777. doi.org/10.1177/17456916221127218


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